5/10/2009

Das schönste Wort

In unserer allerersten Chinesischstunde im Gymnasium wurden wir von Frau Koller mit dem Sprichwort "不怕慢,只怕站。", "Fürchte dich nicht vor dem Langsamsein, sondern vor dem Stehenbleiben." empfangen. Man braucht nicht mühevoll Chinesisch gelernt zu haben, um die Bedeutung dieses Satzes zu verstehen; wir alle kennen Momente, wo uns das Langsamsein zuweilen dem Stehenbleiben zum Verzweifeln ähnlich scheint. Das Lieblingswort 慢 (màn, "langsam") begleitet mich also schon seit dem ersten Tag. Es ist eins der alltäglichsten Worte und überall anzutreffen:


In anderen Verwendungsformen geht 慢 aber über seine Grundbedeutung hinaus: mit 慢慢来 (màn màn lái, wörtl. "langsam kommen"), was ungefähr mit "sachte" oder "take it slow" übersetzt werden kann, trösten z.B. Einheimische ihre frustrierten ausländischen Freunde. 慢慢吃 (màn màn chī, wörtl. "langsam essen") sagt man während dem Essen für "guten Appetit" und "lass es dir schmecken"; und mit 慢走 (màn zǒu, wörtl. "langsam gehen") verabschiedet sich der Gastgeber vom Gast.
In diesen Ausdrücken nimmt 慢 verschiedene Anklänge auf: langsam kommt, was ohne Eile ist (und was Geduld hat/braucht), langsam isst, wer geniesst, und langsam geht, wer einen sorgenfreien und beschützten Weg vor sich hat. "Langsam" wird zu einem Attribut von "Ruhe und Frieden". Irgendwie naheliegend und irgendwie überraschend.