4/06/2009

Frühlingserwachen

Im März begann die Sonne langsam, die Stadt ein bisschen länger und wärmer zu bestrahlen, und in den steigenden Temperaturen wachte Peking endlich aus seinem Winterschlaf auf. Die Wandervögel kehrten in den Norden zurück und vor allem (bei Vögeln kenn ich mich ja nicht so aus) wurden wieder vermehrt Touristen gesichtet an den heiligen und alten Tempeln und Palästen ringsum... Ein paar davon durfte ich persönlich kennenlernen und begleiten, und mit ein paar davon durfte ich Wiedersehen feiern. Und u.a. dank Couchsurfing gelangte ich an ein paar neue und erstaunliche Orte dieser Stadt.

Es begann mit Sebastian, der mit der Transsib aus Moskau angekommen war. Bevor er auf seine weitere Chinareise aufbrach, besuchten wir zusammen den Himmelstempel, wo wir gleich alles zu sehen kriegten, wofür Peking geliebt wird: Trainierende Senioren an den Fitnessgeräten vor dem Park; ein Regiment von Walzertänzern; Peking-Oper Solisten mit Begleitung, ein Impro-Orchester mit traditionellen Instrumenten und einen Chor, der die ganze Arkade vor dem Tempeleingang füllte... und an einem anderen Abend offenbarte uns die Wangfujing Dajie ihre Snack-Street mit Skorpions-Spiessli und anderen erschreckenden Sachen.

In den Pekinger Unis wurde die die Semaine de la Langue Française durchgeführt, in deren Rahmen die Genfer Rapband Deklin zusammen mit Accrophone aus Kanada und James Deano aus Belgien an der Beiwai Uni auftraten, wo Wei studiert. Sogar die CH-Botschaft war anwesend. Wir vertanzten den Abend (also Wei und ich) und ich verpasste um Haaresbreite die letzte Ubahn.

Mit Wilfredo nahm ich an einem Spaziergang unter dem Titel "Unique Hutongs in Qianmen Neighbourhood" teil, wo wir Einblicke in das engste, das meist-gewundene und das kürzeste Hutong in Peking erhielten, und an einem alten Zunfthaus, einer kleinen Moschee, der Zhushikou-Kirche und einem Strassenmarkt und dem alten Rotlichtviertel vorbei kamen. Die Gegend um das Qianmen bis hinunter zur alten Stadtmauer war zu Zeiten der Qing-Dynastie von der niedrigeren Gesellschaftsschicht bewohnt und die Hutongs dort sind entsprechend enger und kleiner als ihre touristisch aufgemotzten Gegenstücke um den Kaiserpalast und den Shichahai herum. Die ehemalige Handelsstrasse, die vom Qianmen nach Süden führte, wurde anlässlich der Olympiaden renoviert in einem zweifelhaften Versuch, den Reiz von früher wieder herzustellen (inkl. Touristenträmli auf 200m-Schienenstrecke). Aber abgesehen von diesem einen Missgriff strahlen die Hutongs rund herum noch viel Authentizität und Schönheit aus und halten drohenden destruktiven Baumassnahmen hoffentlich noch ein bisschen stand.

Im südlichen Chongwen Quartier befindet sich auch ein Observatorium mit jesuitischen Astronomie-Instrumenten, das auf der früheren Stadtmauer stand, das letzte Stück der alten Stadtmauer mit einer Kunstgalerie im Eckturm und das alte Delegations-Quartier mit erstaunlichen Gebäuden ausländischer Architektur und einer kleinen gotischen Kirche. Ausserdem fand ich das Pekinger Polizeimuseum, das gleich gegenüber vom Obersten Gerichtshof steht.

In der Chongwenmen Protestant Church, einem recht grossen Gebäude in einem Hutong nahe der alten Stadtmauer, hörte ich meinem ersten simultan-übersetzten chinesischen Gottesdienst zu. Lustigerweise fand ich mich auf der Ausländer-Bank neben einem Zürcher wieder. Die Kirche war gepackt voll mit etwa 300 Personen. Nach dem GD stand schon eine lange Schlange für den nächsten in der Gasse. Ich hatte den Ton der Prediger bei den Besuchen in der Zhushikou Jiaotang nicht missdeutet; der Inhalt der ewig dauernden Liturgie tendierte eher zu einer maoistischen Volks-Indoktrinierung "Schaut, dass ihr auf die Arche kommt, bevor sie voll ist! Studiert täglich mit Hingabe die Worte Jesu Christi! Betet und übt Selbstkritik!" als zu (mir näheren) nachdenklichen Textauslegungen. In der Bank vor mir schliefen ein paar Frauen ein. Bevor das Abendmahl ausgeteilt wurde, rief die Predigerin alle Ungläubigen und Ungetauften auf, die Kirche zu verlassen. Etwa die Hälfte der Besucher gingen hinaus. Stolz war ich, als ich bei einigen Liedern mitsingen konnte, obwohl sie im Liederbuch nur mit Zeichen geschrieben sind.

Davis Chen, der schon den Hutong-Trip durchgeführt hatte, organisierte einen Besuch auf den Huanghuacheng-Abschnitt der Grossen Mauer, wo sich auch die best erhaltene Militärfestung an der Mauer befindet. Das Hawk Castle wurde 1592 in der Ming Dynastie gebaut und wird bis heute bewohnt. Es soll während der Ming Dynastie Angriffen von Mongolen und vor einigen Jahrzehnten den Sovjeten standtehalten haben. Gegen letztere wurden auch rätselhafte Tunnels in die Berge ringsum gebohrt, als China Schutzvorkehrungen für den Fall eines Atomkriegs traf.