1/14/2009

Frieren in Harbin

Ich weiss nicht, woran es lag. Wir hatten die Reise nach Harbin schon fast einen Monat im Sinn, drei Tage vor Abfahrt aber noch nichts als dieses Datum weiter "geplant". Nach 40 Minuten Anstehen in Wind und Kälte (gedämpft durch meine neue Daunenjacke) an jenem Freitag, 9. Januar, erlitt dann unser Traum beinahe eine Bruchlandung, als der Verkäufer Stehplätze für Samstag, 10. als einzige freie Zugbillete für die nächste Woche verkündete. Denn wie bereits früher erwähnt, ist bald Frühlingsfest: Ein jeder Chinese, der es vermag, feiert bei seiner Familie zu Hause. Diese Tatsache, und welche Bedeutung sie für die Belegung des öffentlichen Verkehr hat, ging uns ein bisschen spät auf (sh. auch den Wikipedia Artikel, 3. Abschnitt zuoberst) und liess uns kurz zögern.

Sonntag Morgen um 6:00 Uhr aber fanden wir uns zu dritt am Beijing Zhan zusammen und warfen uns ins Gewühl. Wir fanden uns als Sitzlose nicht allein, jedoch allein als Laowai (Fremde, oder nach dem Erstjahres-Chinesischbuch: "international guests") unter zu recht verwunderten Chinesen, die sogleich untereinander zu fachsimpeln begannen. Die nächsten sechs Stunden verbrachten wir auf unseren Koffern sitzend, Carolina verteidigte heroisch ihren Viertel-Quadratmeter mitten im Zugkorridor, während Reona und ich bei einer Wagentür mit Fenster fast Abteil-Qualität genossen. Für die letzten vier (bzw zwei) Stunden ergatterten wir gar echte Sitzplätze, nicht ohne Hilfe unserer neugierigen Mitfahrer, denen wir den Dienst zurück taten und geduldig alle Fragen, die ihnen zu Fremden, Englisch, Schweizer Banken und Familienpolitik (Ihr dürft einfach so viele Kinder haben, wie ihr wollt?) beantworteten. Die Thermometeranzeige liess uns nach Eindunkeln unser Fortschreiten in die mandschurischen Territorien des Landes verfolgen, bei -20 stiegen wir aus, gestärkt von der freundschaftlich geteilten letzten cup noodle soup ("We can share"). Die Fahrt war immerhin preiswert gewesen, keine 25 Franken für 1000 Kilometer Distanz.
In Harbin versuchte gleich der erste Taxifahrer uns zu bescheissen, und das wiederholte sich ausgesprochen mühsam bei ausnahmslos allen Taxifahrern in den nächsten drei Tagen. Das nicht-50-Yuan-entfernte Hotel lag nahe an einem Spiessli-Laden, wo wir z'Nacht assen (was sich ebenfalls dreimal wiederholen soll), bevor wir 累死了 - todmüde zu Bett sanken.

Harbin ist Hauptstadt der Provinz Heilongjiang, ganz im Nord-Osten Chinas, etwas höher noch als die russische Hafenstadt Wladiwostok (im Osten). Als Station der Transmandschurischen Eisenbahn gibts hier auch einiges an Spuren der kyrillischen Nachbarn zu sehen. Mit 5 Mio Einwohnern eher klein. Die Temperatur beträgt im Winter durchschnittlich -16° C. Weil im Winter noch mit Kohlen geheizt wird, sind die Strassen der Stadt schwarz, und die Böden in den Häusern auch (wenn sie nicht ständig gefegt werden). An windstillen Tagen ist der Smog noch undurchdringlicher als in Beijing. Hauptattraktion ist das jährliche, ein bis zwei Monate dauernde "Harbin International Ice and Snow Sculptures Festival" (hier zu fremden Fotos), das drei teure Eintritte in den Disney-Park in der Stadt (das haben wir uns dann doch nicht zugemutet) und die Schnee-Skulpturen-Ausstellung und "Ice and Snow World Exhibition" auf der Sun Island vor der Stadt beinhaltet. Des weiteren gibt es die zentrale Einkaufsstrasse Zhong Yang Dajie und die russisch-orthodoxe Sophienkathedrale (Shafeiya Jiaotang) zu besichtigen. Ausserdem kann man auf dem gefrorenen Songhua Jiang Schlittschuhlaufen, sich auf Skis von einem Auto herumziehen lassen, und Hundeschlitten oder Pferdekutsche fahren.

In zwei Tagen beschauten wir den Grossteil der Stadt und die Skulpturen auf Sun Island. Zunächst einmal war es wirklich eindrücklich, was sie da aus Schnee und Eis so zusammengezimmert haben, z.T. über 30 Meter hohe Skulpturen und Gebäude. Obwohl das Festival schon über eine Woche läuft, war der Schneepark noch nicht ganz fertig, und man konnte den vielen Arbeitern auf den grossen Schneeblöcken beim Gestalten zuschauen. Die Ice and Snow World zeigte etwa 50 Gebäude aus der ganzen Welt, v.a. Europa, Kanada und ein paar wenige aus China und Japan. Das diesjährige Thema sind die Universiaden, Studenten-Weltsportspiele, die dieses Jahr ebenfalls in Harbin ausgetragen werden. Doch wie alles, was in China Besucher anzuziehen verspricht, war auch dieser Ort auf inländische Gruppentouristen ausgerichtet (die auch 90% der Besucher ausmachten). Im Schneepark standen gigantische Schneeskulpturen zu völlig willkürlichen Themen in wiederum völlig willkürlicher Reihenfolge zur Besichtigung (Besteigung, Betretung), alles in Themenpark-Atmosphäre gehalten. Die Gebäude in der Snow and Ice Ausstellung waren zwar vielfältig in Auswahl und Gestaltung, die Erläuterungen dazu aber nicht sehr aufschlussreich ("Typical Norwegian Church", "Typical Canadian Castle"); dazwischen liess sich auch immer wieder eine "Typical European Architecture Creation" finden.

Mehr als die Sehenswürdigkeiten hat uns das Essen gefallen, preiswerter und oft besser als in BJ. Und das Harbin Bier, das im Vergleich zum Yanjing Pijiu und dem Qingdao/Tsingtao aus Shandong (obwohl das ja von Deutschen gegründet sein soll) einen richtigen Geschmack hat. Wir schliefen jede Nacht etwa 10 Stunden, wohl wegen der ungewohnten Kälte. Am dritten Tag gingen uns die Sights aus und wir bummelten uns durch bis zur Heimfahrt, die wir königlich auf den Hotel-gebuchten Couchetten verbrachten (alles scheint königlich neben Stehplätzen). Zurück in Beijing freuten wir uns der warmen 0° Temperatur und waren erleichtert, wieder "zu Hause" zu sein.
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